Bernapark Arealzeitung

7 6 Arealzeitung Sonderausgabe zur Ortsplanungsrevision – Mai 2022 Städtebau — Vittorio Magnago Lampugnani «DIEWELT DES BERNAPARKS KOMMT OHNE KLISCHEES AUS» Vittorio Magnago Lampugnani, Sie haben eine Würdigung für die Vision Bernapark Deisswil geschrieben, welche sich fast wie ein Loblied liest. Haben Sie denn gar keine Vorbehalte? Wenn ich gar keine Vorbehalte hätte, bräuchte ich nicht mehr zu unseren Sitzungen zu kommen. Dort diskutieren wir ja weiter, teilweise durchaus kontro- vers und leidenschaftlich. Ein komplexes und am- bitioniertes Projekt wie der Bernapark muss sich diskursiv entwickeln, und Meinungsverschieden- heiten, auch Konflikte, gehören zur Debatte. Doch meine positiveWürdigung ist so gemeint, wie ich sie formuliert habe: Der Bernapark ist ein grossartiges Unterfangen, welches, sorgfältig orchestriert, die ei- genen ehrgeizigen Vorgaben zu erfüllen verspricht. Sie schreiben sogar, dass der Bernapark zur Pionierleistung von internationaler Be- deutung und Ausstrahlung werden kann. Es gibt allerdings bereits etliche umge- nutzte Industrieareale, viele interessante Projekte liegen in der Schweiz. Weshalb erachten Sie den Bernapark als einzigartig? Jedes Projekt ist einzigartig. Das Besondere beim Bernapark besteht darin, dass es konzeptionell un- mittelbar an die extrem dichte, funktional und so- zial extrem durchmischte vorindustrielle Stadt an- knüpft und sie als überraschend aktuelles Modell offenbart: vielfältiges Nutzungsangebot, kürzeste Wege und damit für den Langsamverkehr ideal, pulsierende Urbanität, hervorragende ökologi- sche Bilanz. Ausserdem kommen beim Bernapark drei Elemente zusammen, die es dazu prädesti- nieren, einen wichtigen Punkt in der Entwicklung des zeitgenössischen Städtebaus zu markieren. Das erste Element ist die wunderbare alte Fabrik- anlage, die in ihrer kompakten baulichen Kraft und Ausstrahlung einzigartig ist und ein Stück Identität darstellt. Das zweite ist ein ambitionierter Bauherr, der dafür ein wahrhaft modernes und wegweisen- des, weil unorthodox gemischtes Programm ent- wickelt hat. Das dritte Element ist ein Architekt, ge- nauer ein Architekturteam, das die Aufgabemit der ganz besonderen Sorgfalt, Gründlichkeit und Fein- Vittorio Magnago Lampugnani ist, wie der Name erahnen lässt, gebürtiger Italiener. Der emeritierte Professor für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich führt ein eigenes Architekturbüro in Mailand sowie, gemeinsammit Jens Bohm, das Büro Baukontor Architekten in Zürich. Seine städtebauliche Kompetenz und Erfah- rung, die sowohl in wissenschaftlichen Publikationen als auch in bedeutenden Projekten wie dem Richti-Quartier in Wallisellen zum Ausdruck kommen, haben die Workshopverfahren der Vision Bernapark Deisswil besonders bereichert. fühligkeit angeht, die sie verlangt, und dem es bis- lang gelungen ist, dieQuintessenz der historischen Fabrikanlage zu verstehen, herauszuarbeiten und ebenso respektvoll wie kreativ weiterzuentwickeln. Obschon Sie sie nicht grundsätzlich ableh- nen, haben Sie nach Abschluss des ersten Workshopverfahrens die Hochhäuser und ihre Komposition als den «wohl schwächs- ten Punkt im Projekt» bezeichnet. Auf- grund der Rückmeldung des Gemeinde- rates von Stettlen wurde genau dieser Bereich in einem zweiten Workshopver­ fahren im 2022 überarbeitet. Hat dadurch das Projekt gewonnen oder verloren? Es hat immens gewonnen. Die Hochhäuser waren eine Ausnahme im städtebaulichen Kompositions- prinzip, das die alte Fabrik vorgibt: Das Prinzip der kompakten Addition unterschiedlicher Baukörper, die zwar fast alle gewaltig sind, aber nie einander übertrumpfen. Die Hochhäuser brachen mit der Logik des Konglomerats und mit dem historischen Massstab. Sie taten es mit eleganter Diskretion, aber sie taten es. Sie waren das Zugeständnis an die Klischees des zeitgenössischen Wohnens – und das in einer Welt wie jene des Bernaparks, die sich sonst den Klischees verweigert. In der neuen, überarbeiteten städtebaulichen Fassung ist das Volumen der Hochhäuser im übergreifenden städ- tebaulichen Kompositionsprinzip aufgegangen (neu wird deshalb nicht mehr von Hochhäusern, sondern von Hochpunkten gesprochen, Anm. d. Red.). Das Prinzip ist jetzt noch stärker, und die Kli- schees sind weg. Gemäss Ihrer Aussage soll die Umsetzung der Vision Bernapark Deisswil flexibel in Einzelaspekten, jedoch streng, gar unnach- giebig im übergreifenden Konzept reali- siert werden. Was heisst das? Es heisst, dass alle Baumassnahmen, die künftig im und für den Bernapark durchgeführt werden, der Logik folgen müssen, die das grosse städtebauli- che Projekt vorgibt. Selbstverständlich werden vie- le Architektinnen und Architekten sowie Nutzende mit eigenen Vorstellungen und Ideen, auch Gestal- tungsideen, an der Umsetzung mitarbeiten. Sie wer- den den Bernaparkmit ihren individuellen Beiträgen bereichern. Aber sie werden ihn nur dann wirklich bereichern, wenn die einzelnen Beiträge das über- greifende Konzept respektieren, stützen und ihm zuarbeiten. Auf keinen Fall darf es verwässert oder verschliffenwerden. Letztlich ist das Projekt des Ber- naparks auch deswegen so herausragend, weil es einen Bauherrn gibt, der hinter dem Vorhaben und seiner Nutzung steht, und einen Architekten, der diesemVorhaben eine kongeniale Formgibt. Es sind zwei Persönlichkeiten, die dafür die Verantwortung übernehmen. Wenn der Bernapark seinen beson- derenCharakter bewahren soll, muss das so bleiben. Foto: Anne Morgenstern Gesellschaft — Joëlle Zimmerli «DER BERNAPARK KANN SICH BEHAUPTEN, WENN ER MEHR BIETET ALS 0815-ANGEBOTE» Joëlle Zimmerli, der Bernapark ist ein Projekt von beträchtlicher Grösse, welches sich über einen langfristigen Zeithorizont erstreckt. Wie gut kann man heute die Bedürfnisse der künftigen Gesellschaft planen? Bedürfnisse der Zukunft können heute nur grob abgeschätzt werden. Deshalb ist es wichtig, dass in einem so langfristigen Projekt wie dem Bernapark genügend Spielraum bleibt, dass künftige Nutze- rinnen und Nutzer – die heute vielleicht noch Kin- der oder Jugendliche sind – sich später auch noch einbringen können. Wir dürfen nicht beanspru- chen, bereits alles für sie zu verplanen. Die Bevölkerung könnte mit der angestreb- ten Entwicklung um bis zu 2000 Einwoh- nerinnen und Einwohner zunehmen. Hält eine Gemeinde wie Stettlen dem stand? Wie kann man dieser Entwicklung gerecht werden? Wenn die Gemeinde ihre soziale Infrastruktur wie Schule, Sport und Betreuung weitsichtig plant, kann sie ein solches Wachstum stemmen. Der Bernapark muss wiederum sicherstellen, dass ein vielfältiges Wohnungsangebot entsteht, so dass Menschen unterschiedlichen Alters und mit unter- schiedlichen Einkommen in die Gemeinde ziehen. Es darf keine einseitige Belastung der Gemeinde- infrastruktur entstehen. Genauso wichtig wird es Die promovierte Soziologin Joëlle Zimmerli ist Gründerin und Geschäftsführerin der ZimraumGmbH, eines sozialwissenschaftlichen Planungs- und Entwicklungsbüros. Sie untersucht gesellschaftliche Bedürfnisse und erklärt, wie Räume gestaltet werden können, damit erwünschte Nutzungen entstehen. So bringt sie die Sicht der Nutzerinnen und Nutzer früh in die Planung ein. Joëlle Zimmerli hat aktiv an der Entwicklung der Vision Bernapark Deisswil mitgewirkt und die soziologische Ebene eingebracht. sein, dass die heutige Bevölkerung offen für die Neuen ist, diese am Gemeindeleben teilhaben lässt und selber die Angebote nutzt, die der Ber- napark ihnen und den neuen Stettlerinnen und Stettlern bietet. Nur weil man etwas baut, heisst das noch lange nicht, dass es auch gefragt ist. Weshalb sollten so viele Menschen ihren Wohn- und Arbeitsort nach Stettlen verlegen wollen? Wir haben heute eine Wanderungsbewegung in Richtung der Städte. Davon profitieren Orte wie Stettlen. Der Bernapark kann sich in der Konkur- renz auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt be- haupten, wenn er mehr bietet als 0815-Angebote, die es anderswo auch gibt. Deshalb ist es wichtig, dass nicht nur neu gebaut wird, sondern auch spezielle Wohnungen im Altbestand entstehen. Als Arbeitsort ist der Bernapark attraktiv, weil hier kleinere und grössere Firmen mehr als nur Büro- und Gewerbeflächen erhalten, nämlich: Zugang zu jungen Arbeitskräften, zu gleichgesinnten Unter- nehmen, gemeinsamer Infrastruktur und zu einem attraktiven Gastronomie- und Freizeitangebot. Unternehmen können hier wachsen, was ein wich- tiger Standortvorteil ist. Wird eine klare Zielgruppe mit der Vision angesprochen? Wie lässt sich die Grup­ pierung charakterisieren, welche künftig im Bernapark erwartet wird? Der Bernapark spricht Menschen an, die mit den heutigen Stettlerinnen und Stettlern die Vorliebe zur Natur und zum dörflichen Leben teilen, aber in einem modernen Umfeld wohnen möchten. Dazu gehören genauso junge Menschen, die sich von ihrem Elternhaus oder ihren Kolleginnen und Kol- legen abgrenzen möchten, als auch sogenannte Empty Nests, die nach demAuszug der Kinder eine neue Wohnform in vertrauter Umgebung suchen. Welche Vorteile, aber auch Herausforde- rungen entstehen für die Stettler Bevölke- rung, die nicht im Bernapark wohnt? Der Vorteil ist, dass diese Stettler Bevölkerung alle Angebote nutzen kann, die der Bernapark bietet: vom Einkauf über die Freizeit bis zur Mobilität. He- rausfordernd für sie ist, die neue Bevölkerung auch in «ihr» Dorfleben zu integrieren und zu akzeptieren, dass Stettlen eine zweite Identität erhält, welche die bisherige nicht konkurrenziert, sondern ergänzt.

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