Bernapark Arealzeitung

11 10 Arealzeitung Sonderausgabe zur Ortsplanungsrevision – Mai 2022 Mobilität — Fabienne Perret «DER BERNAPARK KANN BEI DER MOBILITÄT EINE VOR- REITERROLLE EINNEHMEN» Fabienne Perret, liest man die Würdigun- gen der Experten der Workshopverfahren, klingt die Vision Bernapark wie ein Mär- chen – bis man zu Ihrem Beitrag zur Mobili- tät gelangt. Ist das Thema Mobilität das Sorgenkind im Vorhaben? Ich denke, die Mobilität ist in der Tat ein sehr he- rausfordernder Aspekt des Projekts, weil es in der Natur der Mobilität liegt, dass es Interaktionen mit der Region und anderen Entwicklungen respekti- ve Abhängigkeiten zu anderen Verkehrsvorhaben gibt. Da in der Region viele wichtige verkehrliche Themen noch nicht abschliessend behandelt sind, befindet sich das Vorhaben diesbezüglich teilwei- se in einem leeren Raum. Wer ist gefordert? Die Gesamtheit der für eine erfolgreiche und sied- lungsverträgliche Arealentwicklung erforderlichen Mobilitäts- und Verkehrsmassnahmen betrifft alle Zuständigkeitsebenen: Bernapark, Gemeinden, Region und Kanton. Dies erfordert ein partner- schaftliches, inhaltlich und zeitlich koordiniertes Zusammenwirken über diese Ebenen. Die bisher gut funktionierende Zusammenarbeit ist also auch in Zukunft weiterzuführen. Da die Themen Mobilität und Verkehr nur aufgrund heutiger Kenntnisse beurteilt werden können, ist eine flexible Herange- hensweise in den einzelnen Etappen notwendig. Inwieweit kann der Bernapark auf zukünftige Mobilitätsbedürfnisse reagieren und womit? Wie im Rahmenkonzept Mobilität vorgeschlagen, müssen von Beginn an restriktive Massnahmen greifen – sei es bei der Anzahl Parkplätze oder auch bei der Ausfahrtsdosierung. Nur so kann von Anfang an sichergestellt werden, dass die Mass- nahmen von den Mieterinnen und Mietern auch längerfristig mitgetragen werden. Es soll eine Zielgruppe von Bewohnerinnen und Bewohnern sowie Organisationen angesprochen werden, die sich von einer nachhaltigen Mobilität positiv an- gezogen und nicht abgeschreckt fühlen. Wenn die ETH-Ingenieurin Fabienne Perret arbeitet seit 20 Jahren als Verkehrs- planerin und leitet den Geschäftsbereich Verkehr beimBeratungs- und Ingenieurunternehmen EBP Schweiz AG. Fabienne Perret hat dieWorkshopverfahren als externe Expertin begleitet und ihre grosse Erfahrung aus ähnlich gelagerten Projekten eingebracht. Das Rah- menkonzept Mobilität für die Vision Bernapark Deisswil wurde von Kontextplan AG erarbeitet. ersten Etappen bezüglich Mobilität zu lasch um- gesetzt werden, stellt sich eine nachhaltige Mobili- tätskultur imBernapark nur schwer ein. Neben den erwähnten restriktiven Eingriffen wären aber auch Anreize sinnvoll, welche die Mobilität der Bewoh- nerinnen und Bewohner, der Arbeitnehmenden und der Schülerinnen und Schüler von Anfang an erleichtern und lustvoll gestalten. Zentral ist auch, dass es eine Stelle gibt, die zustän- dig ist für die Entwicklung, Betreuung und auch für das Controlling der Massnahmen. Eine solche Stelle muss mit den entsprechenden Ressourcen ausgestattet werden. Sie soll auch dafür zuständig sein, das Mobilitätskonzept weiterzuentwickeln und auf Entwicklungen zu reagieren. Zurzeit wird deshalb ein Mobilitätsgremium gebildet, welches diese Aufgaben in Zukunft übernehmen soll. Sie schreiben, der Bernapark habe das Potenzial, auch das Mobilitätsverhalten, respektive die Verkehrsströme der ganzen Region zu beeinflussen. Kennen Sie Beispiele, wo das funktioniert hat? Wenn ja, wie geht man das an? Das Potenzial liegt einerseits darin begründet, dass im Bernapark neue attraktive Angebote für Ein- kauf, Gastronomie und Freizeit entstehen und da- durch die Menschen in der Region allenfalls dafür nicht mehr bis nach Bern fahren. Wichtig ist, dass diese Personen möglichst selten mit dem eigenen Auto anreisen. Andererseits wurde in den Work- shopverfahren die Idee eines grösseren Park+Ride am Standort diskutiert, welcher in Kombination mit dem ausgebauten ÖV-Angebot und weiteren Mobilitätsangeboten im Bernapark (z. B. Sharing- Flotten für Velos, Trottinetts oder On-Demand- Verkehr wie etwa Mybuxi) zu einer multimodalen Mobilitätsdrehscheibe werden kann. Der Bund ist derzeit daran, solche Drehscheiben zu fördern, es gibt daher noch nicht allzu viele entsprechende Beispiele. Der Bernapark könnte hier auch eine Vorreiterrolle einnehmen. Die Region führt dies- bezüglich zurzeit konkrete Abklärungen durch. Parkplätze sind heute bereits eine be- schränkte Ressource auf dem Areal und das werden sie auch bleiben. Wie soll denn das Verkehrsverhalten der Mieterinnen und Mieter und der Besucherinnen und Be- sucher des Bernaparks genau aussehen? In der Mobilitätsvision haben die wenigsten Be- wohnerinnen und Bewohner des Bernaparks ein eigenes Auto. Sie haben stattdessen ein Abo eines Mobilitätsanbieters, über welches sie zu jeder Zeit das am besten passende Verkehrsmittel für sich buchen können. Das kann das E-Bike sein für die sonntägliche Ausfahrt, die S7, umnach Bern zur Ar- beit zu pendeln, oder eben auch das Sharing-Auto, um am Samstag den Grosseinkauf beim Gross- verteiler zu machen. Auch die Besucherinnen und Besucher wählen für ihrenWeg zumBernapark ge- mäss Vision nur in Ausnahmefällen das Auto – auch sie kommen primär mit der Bahn, mit demBus oder dem Velo. Und auch sie sollen von den Angeboten im Bernapark profitieren können. Um die Nutzung solcher Angebote zu fördern, könnte ein Mobili- tätssystem im Sinne der viel diskutierten «Ga- mification» auch mit (finanziellen) Anreizen ver- bunden sein, indem man z. B. Punkte sammelt für nachhaltige Verkehrsmittel, die anschliessend in den ansässigen Läden als Geld verwendet werden können. Die Angebote zur Beeinflussung des Mo- bilitätsverhaltens der verschiedenen Nutzenden sollen laufend weiterentwickelt und an die neusten Erkenntnisse angepasst werden. Architekturgeschichte — Christoph Schläppi «HEUTE GIBT ES EINE RÜCKBE- SINNUNG AUF DICHTE BE- SIEDLUNGEN» Christoph Schläppi, eine Kartonfabrik soll zu einemQuartier fürs Wohnen, Arbei- ten und für Freizeit umgenutzt werden, faktisch ist es bereits passiert. Erachten Sie dies als sinnvolle Transformation oder stehen Ihnen die Haare zu Berge? Die Umnutzung von Industrieanlagen und deren Anverwandlung zu Gewerbe- und Wohnzwecken hat inzwischen eine lange Tradition – besonders auch in Bern, welches 1995 genau dafür mit dem Wakkerpreis ausgezeichnet wurde. Stichwort: Uni- tobler. Transformationen im bebauten Gebiet ge- niessen heute zunehmend auch im Städtebau be- sondere Aufmerksamkeit. Ich sehe den Bernapark als Chance, diesbezüglich ein Leuchtturmprojekt zu realisieren. Die Umnutzung als solche ist bereits in vollem Gange. Sie wurden nun für die Workshopverfahren zur Weiterentwicklung beigezogen. Inwiefern ist die Vision Berna- park Deisswil für die weiteren Bauetappen notwendig? Oder sollte man sich mit dem bereits Vorhandenen zufriedengeben? Der gewaltige Massstab der Kartonfabrik kann nur bewältigt und das Projekt zu einem überzeugen- den Ende geführt werden, wenn wir den Bestand und seine Wesensmerkmale in aller erdenklichen Architekturhistoriker Christoph Schläppi ist Experte für Fragen der historischen Entwicklung von Architektur, Städtebau, Ortsbildschutz und Denkmalpflege. Seine Arbeit bei der kritischen Begleitung von Bauprojekten beginnt oft mit der Lektüre eines Orts und des Kon- texts und läuft auf die Formulierung langfristiger Perspektiven hinaus. Seine Auslegeordnung dient der Entscheidungsfindung und stärkt die Kohärenz von Projekten vomKleinen bis ins Grosse. So auch in den Workshopverfahren des Bernaparks. Tiefe verstehen, Orte identifizieren und Leitideen beziehungsweise Bilder für das Gesamte und seine Teilräume entwickeln können. Diese Bilder sind für die bevorstehenden Prozesse unabdingbar – sie liefern den Kompass, welche Themen und Mo- tive gepflegt und entwickelt werden sollen, und wo besondere Sorgfalt walten muss. Die Qualität des Schlussergebnisses wird massgeblich von der Qualität der durchgeführten Workshops und von der Umsetzung der daraus gewonnenen Erkennt- nisse abhängen. Im Kontext des Areals haben Sie von einer «Zitadelle» gesprochen, ein Begriff der bekannt ist für kleine, in sich abgeschlos­ sene Festungen. Und tatsächlich kann der Bernapark als Insel in der Gemeinde Stettlen wahrgenommen werden – soll das so bleiben, oder will man die Festung aufbrechen? Unser Land ist seit dem Mittelalter durch eine Kultur von städtischen Zentren geprägt. Seit dem 19. Jahrhundert sind deren einst strikte Grenzen aufgebrochen, und das Siedlungsgebiet hat sich zunehmend unkontrolliert ausgebreitet. Heu- te besteht neues politisches Bewusstsein für die Rückbesinnung auf dichte Siedlungskörper. Damit wird die Ressource Landschaft geschont und können gleichzeitig hochwertige urbane Le- bensmittelpunkte entstehen. Im Unterschied zur mittelalterlichen Stadt sind solche Gebilde nicht abgeschlossen, sondern mit Siedlung und Land- schaft intensiv vernetzt. Das wird auch für den Ber- napark gelten. In Ihrer Würdigung der Vision werfen Sie selbst die Frage auf: «Wie sieht ein Städtebau aus, welcher gleichzeitig der Geschichte verpflichtet ist, aber auch bereit ist, vorsichtige Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft zu formulieren?» Wie beantworten Sie diese Frage in Bezug auf den Bernapark? Wir kämpfen heute auch im Städtebau und in der Architektur mit lebensbedrohlichen Auswirkungen der Ressourcenverschwendung und der Wegwerf- gesellschaft. Wiederverwendung und Aneignung bestehender Strukturen helfen nicht nur, Ressour- cen zu schonen, sondern bringen Kontinuität und Orientierung zurück und damit auch Identität. Wir wissen heute, dass die Lebensqualität hochwerti- ger urbaner Orte unmittelbar damit zusammen- hängt, ob und in welcher Form die Geschichte und die Menschen, die dort gelebt und gearbeitet ha- ben, wahrnehmbar sind. Diese historische Transpa- renz ist ein Hauptmerkmal des Projekts Bernapark.

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